Kultureller Zugewinn und errungene Freiheit

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Kultureller Zugewinn und errungene Freiheit

Meldorf - Vor 500 Jahren wurde der Reformator Heinrich von Zütphen in Heide erschlagen – mit einem großen Zütphen-Oratorium im Meldorfer Dom, der letzten Wirkungsstätte von Zütphens, begannen heute die Erinnerungen an ihn, eindrucksvoll präsentiert von der Kantorei St. Ansgarii aus Bremen, dem Norddeutschen Barock-Collegium, den Solisten Anja Petersen und Julian Redlin sowie Sprecher Erik Roßbander, geleitet von Kai Niko Henke und in Anwesenheit des Komponisten Keno Hankel.

Propst Dr. Andreas Crystall ordnete von Zütphens Wirken in seiner Begrüßung so ein: „Herzlich willkommen im Meldorfer Dom. Es gibt nördlich der Elbe an der Nordseeküste kein weiteres Gebäude, dessen alte dicke Mauern so viele Geschichten beherbergen, die sich hier ins steinerne kulturelle Gedächtnis eingraviert haben über die Jahrhunderte, wie diese Kirche. Unter den vielen kleinen und großen Ereignissen ist das vielleicht Bedeutsamste die Predigt des Heinrich von Zütphen in den ersten Tagen des Dezember 1524, vor 500 Jahren. 

Heinrich war Augustinereremit, ein Mönch, der im Studium zusammen mit Martin Luther im gleichen Haus gewohnt hatte. Die beiden kannten sich gut. Irgendwann war er überzeugt von Luthers reformatorischen Gedanken. Er gehörte zu den frühen Streitern, die viel für ihre Überzeugungen riskierten und sie unters Volk bringen wollten. Das war gefährlich in den ersten Jahren, denn zu gravierend und einschneidend waren die Konsequenzen. Zütphen wirkte in Bremen und überlebte sein Wirken. Dann, im Winter 1524, wurde er nach Dithmarschen gerufen, reiste über Brunsbüttel und Windbergen an, predigte gegen Widerstände gegenan hier im Meldorfer Dom, wo wir heute sind. Und wer genau hinhört mit etwas Phantasie, der hört noch den Nachhall dieser Predigt in den geschichtsgetränkten Mauern. 

Heinrich verunsicherte die maßgeblichen Herrschaften ganz erheblich, einfach nur weil er die schlichte Wahrheit der Bibel vom voraussetzungslos liebenden Gott erzählte, der uns annimmt, obwohl wir sind, wie wir sind. Er stellt etablierte religiöse Traditionen und Strukturen radikal und erheblich in Frage und überlebte mit diesem reformatorischen Wirken in Dithmarschen man gerade 10 Tage. Zütphen ist der erste reformatorische Märtyrer überhaupt, neben zwei weiteren Predigern in Brüssel. Die Umstände seiner brutalen Ermordung sind uns deshalb so gut bekannt, weil Martin Luther selbst ein kleines ergreifendes Büchlein darüber geschrieben hat, unmittelbar nachdem dieser Frevel begangen wurde. Das geschah so früh und zeitnah, dass die Geschichte nicht einmal Zeit hatte für Ausschmückungen und Legendenbildung. Luther war gut informiert und schrieb uns das auf. 

Gern würde ich jetzt alle Einzelheiten der Geschichte und alles, was wir so wissen, erzählen, aber es ist zu viel. All dieses Wissen ist gesammelt in dem neuen Buch über Heinrich von Zütphen, herausgegeben von Frank Trende, das die Details sichert und auch die verschiedenen historischen Texte sammelt, die wir über diesen Reformationsmärtyrer haben, eine wunderbare Sammlung von Aufsätzen, Erklärungen und Erzählungen, passend und nötig für das Gedenken 500 Jahre nach Heinrichs Tod. Das Buch ist ab heute käuflich zu erwerben, es ist am Ausgang erhältlich und kostet 18€. Ich habe schon 150 Exemplare bestellt…

An diesen Tod erinnern wir in diesem Jahr, und das muss auch sein. Der 10. Dezember wird ein Höhepunkt sein, das gesamte Programm liegt aus, ich bitte um gepflegte Beachtung. Unser kulturelles Gedächtnis braucht sorgfältige Pflege und Zuwendung. Wir müssen doch daran erinnern, dass heute so selbstverständliche Errungenschaften wie Gewissenfreiheit oder Meinungsfreiheit, ja Freiheit überhaupt, mühsam von Blutzeugen errungen wurden. Der Preis war ja hoch.

Unsere reformatorischen Eltern lehrten uns, dass unser Glaube allen Menschen dasselbe gleichberechtige Ansehen einräumt, vom Bettelmann zum Bischof. Das ist bis heute Grundlage unseres Grundgesetzes und Basis unserer freiheitlichen Gesellschaft. Und so überaus aktuell an Tagen wie diesen, wo man ja sogar das Volksempfinden wieder meint bemühen zu können. 

Begriffen und umgesetzt hat das übrigens vor 500 Jahren im wesentlichen eine Frau, Wibe Junge, die diese theologische Überzeugung praktisch und konkret auslebte und sich vorbildlich für Heinrich verwandte und die mit ins Gedenken gehört, die wir nicht vergessen dürfen. Die bierseligen martialischen Männer waren mindestens damals noch nicht soweit… 

Und noch was: Wenn wir mit diesem Tag heute das 500jährige Gedenken an Heinrich von Zütphen feierlich und klangvoll einläuten, dann machen wir das nicht, um irgendeine Märtyrer-Nostalgie zu pflegen oder Historienspielchen zu spielen oder um ein paar Geschichtsinteressierte zu triggern. Das geschieht beim nostalgischen Rummel um die Schlacht bei Hemmingstedt 1500 in Dithmarschen ja leider schon oft genug. Wer dort den Schlachtspruch „War die garr, die Bur, de kümmt“ aufleben lässt und vor Kraft dabei kaum sprechen kann, der sollte sich klar sein, dass dieselbe martialisch-archaische Energie 24 Jahre später mithalf, Heinrich brutal zu ermorden. Der Bur, de kümmt, das war gar nicht lustig. Und jede Pflege dieses damaligen martialischen Geistes schmälert die kulturellen Errungenschaften Heinrichs für unsere Gesellschaft, seid da bloß vorsichtig.

Wobei es ja zu den historischen Absurditäten gehört, dass dieser üble Dithmarscher Totschlag erst dazu führte, dass Zütphen diese Bedeutung erlangte. Wäre er in Windbergen hängen geblieben oder hätte er hier 10 Tage gepredigt und wäre dann nach Tönning oder Ribe weiter gewandert, hätte dort eine hübsche junge Nonne geheiratet und sieben Kinder bekommen, würden wir heute nicht hier sitzen. Sein Tod erst entfaltete seine tiefere Wirkung. Also erinnern wir uns dieses Jahr daran, dass Heinrich zu Unrecht ums Leben kam, dass er zurecht die Aufmerksamkeit Luthers bekam, dass er hier ein wichtiger Verbreiter reformatorischer Wahrheiten gewesen ist und somit alle Erinnerung wert. Wer solche Gestalten vergisst, vergisst irgendwann auch den kulturellen Zugewinn und den Wert der errungenen Freiheit.

Und ja, uns Dithmarschern ist die ganze Geschichte auch fürchterlich peinlich. Da kommt einer her, spricht ausgerechnet bei uns von Freiheit, bei den angeblich so freiheitsliebenden Dithmarschern, und wieder wird einer von Dithmarschern erschlagen und Luther fordert darauf hin den ganzen deutschen Sprachraum auf, für diese üblen und unkultivierten Dithmarscher zu beten. Freiheit, die man meint, sollte man auch leben…

Und ja, die Bremer haben im Vergleich gut singen! Dort war Heinrich von Züthphen ja erfolgreicher unterwegs, dort überlebte er sein reformatorisches Wirken, ein nicht unwesentlicher Unterschied… Deswegen ist es nun auch kein Zufall, dass die Bremer dem Heinrich nach 500 Jahren ein Oratorium geschrieben haben, damit die Nachwelt den Mann nicht vergisst. Wir hier hätten nur schreiben kommen, er kam, sah und wir erschlugen ihn, umgeben von 500 besoffenen Bauern. Man besingt ja nicht so gern die eigenen morbiden Gräueltaten…

Wie gut, dass Keno Hanke ein wunderbares Erinnerungswerk komponiert hat und dass Kai Niko Henke und Chor und Orchester hierher gekommen sind, um uns Dithmarschern beim Gedenken zu unterstützen in gemeinsamer Verantwortung und dieses Oratorium noch einmal aufführen. Diese Geste ist großartig, und wir danken Euch 1000fach dafür, dass Ihr an Heinrich von Zütphens letzte Wirkungsstätte gepilgert seid, um hier zu singen und zu spielen und zu tun, was wir nicht hätten tun können. Ihr erinnert an den Bremer Reformator, der ein Dithmarscher Reformationsmärtyrer wurde. Dank an Anja Petersen, Sopran, Julian Redlin, Bass, Erik Rossbander, Sprecher, an die Kantorei St. Ansgarii, Bremen und das Norddeutsche Barock-Collegium. Möge das Gedenken beginnen und die Musik erklingen. Vielen Dank.

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